Sexueller Kindesmissbrauch in der DDR

Fachgespräch der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs

Am 4. Juli 2023 hat die o.g. unabhängige Kommission gemeinsam mit der Landesbeauftragten von Sachsen-Anhalt ein Fachgespräch zum Thema „Sexueller Kindesmissbrauch in der DDR“ durchgeführt.

„Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Doch sexueller Kindesmissbrauch in der DDR ist bis heute stark tabuisiert. Eine öffentliche Wahrnehmung fand in der DDR oder nach 1990 kaum statt. Im Fachgespräch geht es um die Folgen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang mit einer repressiven Erziehung in sogenannten totalen Institutionen […]“, so Dr. Christine Bergmann von der Unabhängigen Kommission (Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von 1998-2002).

Im Fokus des Fachgesprächs stand der Austausch mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt sowie wissenschaftlichen Expertinnen und Experten aus Politik, Justiz, Forschung und Praxis über die Erfahrungen mit Aufarbeitung und Anerkennung von Unrecht. Bemerkenswert war dabei die Differenzierung verschiedener geschlossener Systeme innerhalb des geschlossenen Systems der ehemaligen DDR. In sogenannten totalen Institutionen, wie Spezialheimen, Jugendhäusern oder geschlossenen venerologischen Stationen, wurde sexueller Missbrauch auf Grundlage einer sozialistischen Ideologie und repressiven Erziehung ungehindert ausgeübt und verdeckt und war somit schrecklicher Alltag vieler Kinder, Jugendlicher und junger Frauen. Dennoch steht die wissenschaftliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung der Gewalt vor allem auf den geschlossenen venerologischen Stationen noch ganz am Anfang. „Mädchen ab dem zwölften Lebensjahr und Frauen wurden dort zur Disziplinierung zwangseingewiesen unter dem Vorwand des Verdachts einer Geschlechtskrankheit. Einen medizinischen Grund für die Einweisung gab es selten – und damit auch keine Rechtsgrundlage. Die Mädchen und Frauen sollten zu sogenannten vollwertigen Mitgliedern der sozialistischen Gemeinschaft umerzogen werden. Dabei waren sie unter haftähnlichen Bedingungen massiven Repressionen ausgesetzt in Form von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt.“

Besonders nachhaltig wirkt der authentische und schockierende Bericht von Angelika Börner, die im Alter von 15 Jahren in die geschlossene venerologische Station in Halle (Saale) zwangseingewiesen wurde und dort dem Missbrauch ausgesetzt war. Sie berichtete von schmerzhaften täglichen vaginalen Abstrichen, die als Disziplinierungsmaßnahme dienen sollten. Für „abweichendes Verhalten“ sind Strafen wie etwa Schlafentzug ohne Essen, Tätowierungen, Zwangsarbeit und anderen medizinischen Untersuchungen/Behandlungen aktenkundlich belegt. Wie andere Betroffene kämpft Frau Börner heute für eine Entschädigung. Dabei wirkt ein Ablehnungsbescheid solcher Entschädigungsansprüche meist retraumatisierend für die Betroffenene, da diese so erneut dem Gefühl ausgesetzt sind, dass „andere Menschen wieder über das eigene Leben bestimmen.“

Der Medizinhistoriker Prof. Dr. Florian Steger hat für seine Studie „Disziplinierung durch Medizin“ mindestens 5.000 Fälle aus Halle (Saale) untersucht, von denen die Zwangseinweisung auf die geschlossenen venerologischen Stationen aktenkundlich nachgewiesen ist. Dabei sei auffällig, dass nur bei ca. 20 Prozent der Fälle eine tatsächliche medizinische Notwendigkeit zur Untersuchung vorlag. Zumeist wurden die Betroffenen wegen sogenannten „Herumtreiberei“ oder häufig wechselnder Sexualpartner „einkassiert“. Die Altersspanne der Betroffenen reicht von 12 bis ungefähr 45 Jahre, wobei sich ein klares Mittel bei um die 20 Jahre herauskristallisiert hat. Dem gegenüber stehen die vergleichsweise geringen Strafen in der DDR bei Sexualstraftaten. Dr. Jan Lemke a.D., seit 1995 Richter am Landgericht Magdeburg in der Rehabilitierungskammer, vermutet, dass in der ehemaligen DDR Sexualstraftaten nicht stärker als unbedingt notwendig verurteilt wurden um die betreffenden Täter schnellstmöglich der sozialistischen Arbeit zuführen zu können, was u.a. mit der Abänderung von ausgesprochenen Urteilen gegen Sexualstraftäter entsprechend nach unten (also eine Verringerung des Strafmaßes) einherging. Mitarbeiter verschiedener Beratungsstellen für Betroffene, wie etwa Stefanie Knorr von „Gegenwind“, schilderten, wie die traumatischen Sequenzen die Betroffenen bis heute stark beeinträchtigen. Dabei sind die verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden auf die Lebensabschnitte mit traumatischen sexualisierten Gewalterfahrungen zurückzuführen, die den Betroffenen bis heute das Leben schwer machen.

„Geschichten die zählen“

Die Betroffenen und geladenen Experten wiesen mehrfach daraufhin, dass „Akten und Archive einen wesentlichen Beitrag zur individuellen Aufarbeitung, aber auch für die strafrechtliche Rehabilitierung leisten können. Für Betroffene muss der Zugang zu den Archiven und Akten erleichtert werden, damit sie Informationen über das an ihnen verübte Unrecht erhalten können. Die Aktenrecherche ist zudem häufig mit Kosten verbunden. Die Kommission setzt sich deshalb für ein gesetzlich verankertes Recht auf Aufarbeitung ein, welches auch ein Recht auf die eigene Akte sowie auf Beratung und Begleitung für die Recherche beinhaltet“ – wie es in der Pressemitteilung der Aufarbeitungskommission vom 5. Juli 2023 heißt. Noch wichtiger sei es jedoch, dass es den Betroffenen erleichtert wird, die nach wie vor bestehenden Schweigemauern zu durchbrechen, damit Resonanzräume geschaffen werden können und geholfen wird, damit sich Betroffene bewusst werden, dass sie als Betroffene nicht allein sind.

Aus Sicht des Dokumentationszentrums hat der Fachtag der Aufarbeitungskommission dafür einen wichtigen Beitrag geleistet.