Geschichtsmesse 2024 in Suhl

Ein weites Feld

Vom 29. Februar bis 2. März 2024 fand im Ringberghotel in Suhl die 16. Geschichtsmesse der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur statt. Das diesjährige Motto lautete: „Ein weites Feld. Neue Perspektiven auf die Aufarbeitung von Diktaturen in Deutschland und Europa“.

Die Veranstalter boten wieder ein vielfältige Programm. Nach einem Vortrag von Claudia Roth (MdB, Staatsministerin für Kultur und Medien) moderierte Korbinian Frenzel (Deutschlandfunk Kultur) ein Podium mit dem Thema „Versteinerte Geschichte vs. dynamische Erinnerung“ und kam ins Gespräch mit Uwe Neumärker (Direktor Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas), Sabine Rennefanz (Journalistin & Autorin), Prof. Dr. Martin Sabrow (Historiker), Louisa Slakova (Direktorin der Sofia Platform) sowie Claudia Roth. Louisa Slakova erinnerte daran, dass die deutsche Erfahrung mit Kommunismusgeschichte nichts eigenständiges ist, sondern dass Deutschland diese Erinnerung mit vielen östlichen Nachbarländern teilt, die eine weniger starke Aufarbeitung ihrer Geschichte betreiben. Prof. Sabrow beschrieb die deutsche Aufarbeitung als spezielle Form der „Vergangenheitsvergegenwärtigung“ und sieht sie als Phänomen von geschichtlicher Erkenntnis, die einen Wahrheitsanspruch und Aufklärung verfolgt und oft mit dem Sinnen nach einer bestimmten Form nach Versöhung verbunden ist. Die Schwierigkeit im Hinblick auf die Aufarbeitung im Bereich nach 1945 stellt sich so dar, dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur stark von den Unterdrückungsmechanismen geprägt ist, die eben eine Diktatur ausmachen. Das spiegelt jedoch die Lebenswirklichkeit vieler ehemaliger DDR-Bürger nicht wider, die sich deshalb oft nicht in dieser Form der Aufarbeitung wiederfinden, so Rennefanz. Das betrifft vornehmlich die Menschen, die nicht mit dem System sympathisierten, aber auch nicht mit ihm in Konflikt geraten sind. Die Podiumsteilnehmer waren sich einig, dass Aufarbeitung immer nach einem Folgeschluss verlangt, sprich: Wir hören zu und lernen aus unserer Geschichte, damit die Zukunft besser wird.
Den Tagesabschluss bildete eine gemeinsame Lesung von Hendrik Bolz alias „Testo“, Rapper und Autor des Buches „Nullerjahre“ mit Prof. Ines Geipel, Autorin des Buches „Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass“. Beide Autoren schilderen in ihren Werken persönliche Erfahrungen und Erinnerungen an die DDR sowie dem Umbruch 1989/1990.

Der zweite Tag wurde mit einem Podiumsgespräch eröffnet, das die Frage stellte: „Geschichte für alle – Wie können Erinnerungskultur und historische Bildung vielfältig gestaltet werden?“. Im Gespräch mit Miriam Menzel (Alfred Landecker Foundation) überlegten Cahit Başar (Generalsekretär der Kurdischen Gemeine Deutschland), Sandra Brenner (Landesjugendring Brandenburg e.V. / Zeitwerk), Luise Taschner (Grenzhus Schlagsdorf) und Maria Wilke (Stiftung Erinnerung, Verwantwortung und Zukunft) wer überhaupt bei einer Geschichte für „alle“ gemeint ist. Wer sind „alle“? Dabei stand die Bildungsarbeit für jugendliche und junge Erwachsene im Vordergrund. Das sind also Schüler mit und ohne Einschränkungen motorischer und psychischer Natur. Schüler aller Glaubensgemeinschaften, die möglicherweise auch ein anderes Geschichtsverständnis haben, weil sie anders sozialisiert sind. Schüler aus dem ländlichen und städtischem Bereich unterschiedlicher Altersgruppen, Bildungsstände und Schulformen. Meint also Geschichte für „alle“ eigentlich Geschichte für möglichst viele?

Am Vor- und Nachmittag bestand die Möglichkeit, verschiedene Panels zu unterschiedlichen Themen wie u.a. „Forschung, Wissenschaft und Publikationen“, „Digitale Formate“ und „Bildungsprojekte für Jugendliche“. Die Mitarbeiterinnen des Dokumentationszentrums besuchten mehrere Panels um so viele Angebote wie möglich wahrzunehmen. Dabei blieb vor allem die Buchpräsentation der Autorin Maja Nielsen in Erinnerung, die aus ihrem jüngst erschienenen Buch „Der Tunnelbauer“ las, in dem die Geschichte von Joachim Neumann erzählt wird, der als junger Student Tunnel von West- nach Ostberlin grub um Menschen aus der DDR kurz nach dem Mauerbau die Flucht zu ermöglichen. Darüber hinaus haben wir viele Anregungen für digitale Angebote als Impulse für unsere eigene Arbeit wahrgenommen. Das Grenzmuseum Schifflersgrund stellt eine Lernlandschaft vor, bei der die Geschichte des Grünen Bandes mit einer digitalen 360Grad-Anwendung erfahrbar wird, die auf der Internetplatform Zugang zu interaktiven Quellen und Zeitzeugenerfahrungen bietet. Das Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. stellte die neue Internetseite https://dieanderejugend.de/ vor, die digitale Lernmodule zu Jugendkulturen in der DDR und der Transformationszeit bietet. Im Vordergrund stehen hier Punks, Breakdancer, Metalheads und Ökos – also ein ziemlich bunter Haufen. Die Webseite ist aufgegliedert in Einführungstexte, Interviews, Audios und Aufgaben, die direkt auf der Seite im Schreibfeldern beantwortet werden und später als zusammengefasste pdf-Dateien heruntergeladen werden können.

Am Abend nahmen Bibiana Malay und Grit Diaz de Arce die Teilnehmer mit auf eine dokumentarisch-musikalische Zeitreise in die 1970er und 1980er Jahre Ostberlins. Anhand von Liedern, Fotos, Tagebüchern, Stasiakten und skurilen Selbstbekenntnissen durchleuchten sie ihre Kindheit hinter dem antifaschistischem Schutzwall. Geboren und aufgewachsen in der Hauptstadt der DDR, war das Einzige, was Gretchen und Bibi von ihren Mitmenschen unterschied, ihr fremdländisches Aussehen. Ihre afrikanischen Väter hatten in Ostberlin studiert, um in ihren Heimatländern den Sozialismus aufzubauen. Die dunklere Hautfarbe spielte für die Kinder selbst keine Rolle, nur durch die Außenwahrnehmung wurden sie immer wieder darauf gestoßen, dass sie anders wären. Entgegen der offiziellen Doktrin von der internationalen Solidarität und Völkerfreundschaft erzählen sie in authentischen Zeugnissen, wie sie mit dem unterschwelligen und teils offenen Rassismus, den sie als Kinder und Jugendliche in der DDR erfahren haben, umgegangen sind.

Zum Abschluss der Geschichtsmesse fanden am 2. März Gesprächsrunden mit der Journalistin Blanka Weber statt, die mit ihren Gästen erörterte, wie sich das Bild vom Westen bzw. Westdeutschland und seiner Rolle aus Sicht vieler Ostdeutscher in der jüngeren Geschichte verändert hat. Sie diskutierte dazu in drei Gesprächsrunden mit Bodo Ramelow (Ministerpräsident des Freistaats Thüringen), Linda Teuteberg (MdB), Dr. Alexander Jehn (Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung), Vanessa Vu (ZEIT Online), Dr. Jonila Godole (Universität Tirana), Markus Meckel (Ratsvorsitzender der Bundesstiftung Aufarbeitung) und Prof. Dr. Karolina (Universität Warschau). Wie sieht die ostdeutsche Selbstwahrnehmung aus und wie unterscheidet sich das „Ostdeutschsein“ von der empfundenen „westlichen Dominanz“? Wie wird dabei auch Ostdeutschland aus Sicht der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen? Diente „der Westen“ vor 1989 noch als Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Freiheit und Wohlstand, überwog angesichts der Schwierigkeiten der Transformation schon bald nach 1990 öffentliche Ernüchterung. Auch in den verschiedenen Protestbewegungen Ostdeutschlands in jüngerer Zeit spielt „Westdeutschland“ bzw. die als westdeutsch wahrgenommene Mehrheitsgesellschaft eine große Rolle, von der sich „der Osten“ vielfach unterscheide. Was ist eigentlich dran an dem Vorwurf, der Westen interessiere sich immer noch zu wenig für den Osten, seine diktatorische Vergangenheit nach 1945 und deren Folgen, die bis heute spürbar sind?

Wir bedanken uns bei den Veranstaltern für drei spannende Tage auf der Geschichtsmesse und freuen uns bereits auf das Programm für 2025.

Fotos: Anna Skiba